Michel Auder mit Michael Stickrod

Teil des Ausstellungsparcours der Biennale für Freiburg

In Kooperation mit Julius Martin-Humpert, Maristella Witt, Ilja Zaharof und Franziska Rist
Feminists Insha’allah - La Révolution des Femmes | Feriel Ben Mahmoud | 2015
 

 

MAY ’68 IN ’78, 1978/2019
Video, edited by Michael Stickrod

BLEACHER (#4), 2021
Michael Stickrod in Kollaboration mit Julius Martin-­Humpert, Maristella Witt, Ilja Zaharov und Franziska Rist

1968 dokumentierte der Fotograf und Filmemacher Michel Auder die Revolten in Paris, verlor das Filmmaterial jedoch kurz darauf bei seinem Umzug in die USA. Exakt zehn Jahre nach den Ereignissen stellte Auder diese filmischen Erinnerungen mit MAY ’68 IN ’78 wieder her, indem er mit Pariser Künstler*innen, Arbeiter*innen, einem Polizisten und einer Verkäuferin in Dialog trat, um sie zu ihren persönlichen Erinnerungen an den Mai 1968 zu befragen.

MAY ’68 IN ’78 zeichnet ein vielstimmiges Porträt der unterschiedlichen Rollen und Ansichten, die die Befragten während der Proteste und im Rückblick darauf einnehmen. Während die einen selbst aktiv beteiligt waren, empfanden andere die Proteste als lästig oder ordneten sie schlicht als unbedeutend ein. Die von Auder initiierten Gespräche mit Personen unterschiedlicher sozialer und beruflicher Zugehörigkeiten reinszenieren die sozialen Begegnungen, die, wie einer seiner Interview­partner erzählt, auch für die Ereignisse im Mai 1968 charakteristisch waren: „People were talking to each other, anybody talked to anybody, telling each other that had never been said before.“

Ursprünglich als Filmvorführung in Jean Tinguelys Skulptur LE CYCLOP in Milly-­la-­Foret geplant, was aus technischen Gründen nicht realsiert werden konnte, wurde MAY ’68 IN ’78 2019/2020 erstmals in der Beeler Gallery in Colombus, Ohio, in einem skulpturalen Setting von Michael Stickrod gezeigt. Stickrod, ein häufiger Kollaborationspartner von Michel Auder, hatte das Videomaterial für diese Ausstellung gesichtet, digitalisiert und geschnitten.

Für die BfF#1 wurde ein Element der Installation von Michael Stickrod rekonstruiert: ein sogenannter Bleacher (Tribüne), der auf die Theatralik vieler der Ereignisse im Mai 1968 verweist und dabei gleichzeitig wie eine Barrikade den Galerieraum besetzt. Auf und neben dem Bleacher zeigen vier in Freiburg lebende Künstler*innen neue Arbeiten, die aus der Auseinandersetzung mit MAY ’68 IN ’78 hervorgegangen sind und im Austausch mit Michael Stickrod und Michel Auder entwickelt wurden. Im Rahmen des Symposions der BfF #1 „A COMMONPLACE IS NOT A CLICHÉ“ PERSPEKTIVEN AUF ÖFFENTLICHKEITEN, ASYNCHRONE ALLGEMEINPLÄTZE UND INFRASTRUKTURELLE INTIMITÄTEN am 10. Juli wurde der Film als wichtiges Zeitdokument und filmische Reflexion des Allgemeinplatzes “Mai 1968” gezeigt.

 

„UNTITLED“ (POUR CAUSE D‘INUTILITÉ), 2021
Ilja Zaharov
Offsetdruck auf Papier, 16 x 42 x 59,4 cm (ideale Höhe) [Auflage 800]

„UNTITLED“ (POUR CAUSE D‘INUTILITÉ) besteht aus gedruckten Blättern mit der französischen Aufschrift CLOSED (DUE TO USELESSNESS) und erinnert an die Protestplakate vom Mai ’68. Das Plakat bezieht sich auf die kurzzeitige Schließung des Musée d‘Art Moderne durch Studenten, die diesen Satz auf ein Transparent geschrieben hatten und damit den Eingang verdeckten; ein Vorfall, der von einem Interview­partner im Film nacherzählt wird. Die Besucher*innen können die Blätter mitnehmen und so selbst über ihre Verwendung und revolutionäre Kraft bestimmen.

 

ÉCOUTE, 2021
Franziska Rist
Kissen, Gips, 55 x 40 x 70 und 38 x 33 x 45 cm

Während ich in die Arbeiten von Stickrod und Auder eintauche und die Gemeinschaftsausstellung in der KoKi vorbereite, konfrontiere ich mich in meiner individuellen Atelierarbeit mit meinem bisher persönlichsten Material: den alten Kissen meiner Mutter. Da die Kissen noch nach ihr riechen, erlebe ich Rückblenden in meine Kindheit und entwickele eine starke emotionale Bindung zu dem Werk. Wenn ich die Skulpturen in die kollektive Installation aufnehme, ändert sich die Referenz, aber meine Beziehung bleibt bestehen. Im Dialog mit dem Film MAY ’68 IN ’78 geben sie Einblick in eine individuelle Geschichte.

 

LAST NIGHT OF INSURRECTION, 2021
Julius Martin-­Humpert
Paraffin-­Wachs, 30 x 20 x 25 cm

Die Arbeit LAST NIGHT OF INSURRECTION bezieht sich auf das Zitat von Tinguely, das besagt, dass der Mai ’68 keine materiellen Folgen hatte, sondern zu einer Revolution der Gedanken und Haltungen führte. Ein Wachskanister, der den Gasmangel in Paris während der Streiks abbildet, synthetisches Paraffinwachs, das die Innenseite nach außen kehrt und eine Hülle für die Entfaltung von (destruktiven) Potentialen schafft. Das Klima von gesellschaftlichem Umbruch und ständiger Veränderung, zwischen Aufruhr und Reformen, Gas und Feuer, wird vorübergehend als Aggregatzustand verfestigt.

Maristella Witt: Zivile Unruhen rühren an den Rollen öffentlicher und privater Einrichtungen. Während der Proteste wurden Schulen und Universitäten umfunktioniert, die Symbolik und Existenzberechtigung des Museums wurde in Frage gestellt, die Druckerei in eine Plakatdruckerei umgewandelt. In dem Maße, wie sich die Bedürfnisse der Menschen verändern, wandeln sich bestimmte Räume, in denen man zusammenkommt, plant, besetzt, Strategien entwickelt und Pläne schmiedet. So beängstigend die Proteste auf manche wirkten, so erbärmlich und mickrig wirkten sie auf die Befragten – wie ein Käfer, der auf den Rücken gefallen ist.
Mich interessierte die theatralische Konnotation des Materials des Schweißvorhangs, da es einem Theatervorhang ähnelt, aber auch die Verbindung zum mentalen Bild des Schmiedens und Schweißens eines Projekts, eines Plans, einer Waffe herstellt. ‘In my mind it was more like a fever, radical, inflamed’ – das Thema der entzündeten Theatralität war der erste Impuls für den Werkprozess meiner Skulpturen.

 

MICHEL AUDER ist ein amerikanisch-französischer Videokünstler, der in Brooklyn, NY, lebt. Seine Herangehensweise an Video entwickelt sich aus der Politik des Maies ‘68. In seinem Schaffen stellt Auder das Politische dem Sozialen gegenüber und setzt Video als Mittel zur und Erweiterung von seiner Welterfahrung ein.

MICHAEL STICKROD stellte seine Werke bereits in New York, Los Angeles, Chicago, Marseille, Oslo, Kopenhagen, Zürich, Brüssel, Mailand und Berlin aus. Im Jahr 2008 wurde er mit dem Altoids Award und einer Ausstellung im New Museum in New York ausgezeichnet. Seine jüngste Ausstellung in Krabbesholm Højskole, GARDEN OF GODS, war seine erste Einzelausstellung in Dänemark. Er lebt und arbeitet in New York City.

FRANZISKA RIST (geb. 1997) ist eine junge Künstlerin, aufgewachsen im Freiburger Umland. Von 2017 bis 2021 absolvierte sie ein Bildhauerei-­Studium an der Edith Maryon Kunstschule Freiburg und wird ab Herbst ‘21 das Kunststudium an der Hochschule für Bildende Künste in Dresden fortführen. Ihre Arbeiten sind raumbezogene Skulpturen und Installationen, welche aus Alltagsmaterialien und Fundstücken entstehen, die immer im persönlichen Bezug zur Künstlerin stehen.

JULIUS MARTIN-­HUMPERT, geboren 1993 in Freiburg, 2015–2018 Ausbildung zum Schreiner, seit 2020 Studium der Bildenden Kunst mit Schwerpunkt Bildhauerei an der Edith Maryon Kunstschule Freiburg. Ausgehend vom Handwerk, bei dem das Material zu einem bestimmten Endprodukt führt, fokussiert er nun den Prozess, der hinter der physischen Wahrnehmung steht. Die Arbeiten versuchen das Feld zu erforschen, weg vom hierarchischen, homogenen hin zu einem pluralistischen, dezentralen und kartographischen Denken.

MARISTELLA WITT lebt und arbeitet in Freiburg und studiert seit 2018 Bildende Kunst an der Macromedia Hochschule (ehemalige hKDM). Sie beschäftigt sich mit Mixed-­Media-­Prozessen, die eine Art alchemistische Transformation durch machen. Mit Stop-­Motion Animationen werden Realitäten auf surrealistische Art manipuliert, mit Heißkleber und Ton verschiedene Aggregatzustände erforscht und festgehalten. Durch sprunghafte Assoziationen werden Impulse auf verschiedenen Ebenen über Mikrokosmos-­Makrokosmos hinaus ausgeweitet.

Was
Biennale für Freiburg 2021

Wann
10.9. – 3.10.2021
Do 12–20 Uhr, Fr–So 12–18 Uhr,
Mo–Mi geschlossen

Wo
Galerie im Alten Wiehrebahnhof
Urachstraße 40
79102 Freiburg